2. Theorien und Methoden der Emotions- und Angstforschung

2.1 Die Erforschung der Emotionen

Emotionen wurden im Laufe der Jahrhunderte aus der Perspektive ganz verschiedener Disziplinen erforscht, von Philosophie, über Biologie, Ethnologie, Anthropologie, Psychologie bis in die Neurowissenschaften. Erst neuerdings interessieren sich die Geisteswissenschaften wieder vermehrt für Emotionen.

Die ersten Gedanken zur Bedeutung von Emotionen sind von den antiken Philosophen überliefert, bei Aristoteles beispielsweise im Rahmen der Rhetorik. Bis heute beschäftigen sich die analytische und die Existenzphilosophie mit Emotionen, Erstere, um die Begrifflichkeiten zu explizieren und zu definieren, Letztere, um die Bedeutung der Emotionen als Auszeichnung des Menschen gegenüber Tieren zu betonen. Die philosophischen Ansichten von Emotionen werden im Kapitel 2.1.1 genauer behandelt.

Darwin glaubte, dass auch Tiere Emotionen spüren und ausdrücken. Die daraus folgende Frage, ob Emotionen beim Menschen daher angeboren und evolutionär geprägt sind, oder ob sie erlernt werden und allein kulturell geprägt werden, wurde in Biologie, Ethnologie und Anthropologie kontrovers diskutiert. Die Entwicklung der Ansichten wird in Kapitel 2.1.2 als „kulturelle“ Revolution beschrieben.

Emotionen galten lange als Teil des Leibes und irrationale Kräfte, im Gegensatz zur Vernunft, die ihren Sitz im Geist hat. Diese Sicht auf Emotionen, basierend auf dem Leib-Seele-Dualismus der Philosophie, hat sich durch die Psychologie im Rahmen der „kognitiven Wende“ gewandelt, wie im Kapitel 2.1.3 erörtert wird.

Als Sitz des Geistes wird heute das Gehirn gesehen, das die Neurowissenschaften aus interdisziplinärer Sicht untersuchen. Die relevanten Ergebnisse der Hirnforschung zu Emotionen werden im Kapitel 2.1.4 zusammengefasst.

Im letzten Kapitel 2.1.5 wird diskutiert, warum und wie die hier vorgestellten interdisziplinären Erkenntnisse zur Erforschung der Emotionen aus historischer Perspektive beitragen können.

2.1.1 Philosophie der Emotionen

Das Interesse der Philosophie an Emotionen ist von der Antike bis zur heutigen Zeit dokumentiert.[1] Emotionen dienen Aristoteles als rhetorisches Mittel zur Unterstreichung von Argumenten.[2] Es gebe drei Arten, das Publikum mit einer Rede zu überzeugen: durch Argumentation, durch Wecken der Emotionen und durch den Charakter bzw. das Charisma des Redners. Dabei sollen Emotionen den Zuhörer einer Rede vor allem „bewegen“, aber nicht ohne dass der charismatische Redner gute Argumente vorzubringen weiß. Die besten Reden sind für Aristoteles die, in denen alle drei Elemente auf ideale Weise zusammenspielen. Im Rahmen der historischen Emotionsforschung ist dies ein erster Hinweis darauf, dass Reden als Quelle der Emotionsforschung dienen können.

Sabine Döring erhebt für die moderne (analytische) Philosophie „einen normativen Anspruch, indem durch sie die (Gefühls-)Begriffe allererst expliziert werden, von denen dann die naturwissenschaftliche Forschung ihren Ausgang nehmen kann – und muss.“[3] Eine belastbare begriffliche Basis ist für alle Wissenschaften vonnöten, besonders für die Geschichtswissenschaft. Eine Schwierigkeit des interdisziplinären Austauschs besteht darin, die abstrakten philosophischen Definitionen in die quellenkritische Praxis des Historikers zu übersetzen, der zwischen den Zeilen seiner Quellen lesen muss, um Emotionen zu erkennen.

Die kognitiv orientierte Emotionsdefinition der Philosophin Martha C. Nussbaum nutzen Emotionshistoriker wie Barbara Rosenwein (vgl. Kap. 2.2.4) als Arbeitsdefinition. Daher soll sie auch hier diesem Zweck dienen. Sie definiert Emotionen folgendermaßen:

„[Emotions are] appraisals or value judgements, which ascribe to things and persons outside the person’s own control great importance for that person’s own flourishing. It thus contains three salient ideas: the idea of a cognitive appraisal or evaluation; the idea of one’s own flourishing or one’s important goals and projects; and the idea of the salience of external objects as elements in one’s own scheme of goals. Emotions typically combine these ideas with information about events in the world; they are our ways of registering how things are with respect to the external (i.e., uncontrolled) items that we view as salient for our well-being.“[4]

Nussbaum zufolge sind Emotionen von Bedürfnissen, Stimmungen und Wünschen durch zwei Eigenschaften zu unterscheiden: „[Only emotions are] value-suffused and (to some extent at any rate) object-flexible“.[5] Für sie sind Emotionen kulturabhängig, denn Kulturen bestimmen und beinhalten Wertvorstellungen. Sie betont die Bedeutsamkeit der Emotionen sowohl für Ethik und Moral als auch Politik: „without emotional development, a part of our reasoning capacity as political creatures will be missing.“[6] Nussbaum stellt heraus, dass Emotionen nicht immer durch Sprache ausgedrückt werden können: „Some emotions, even in an adult, may preserve a preverbal infant’s archaic and indistinct view of the object. We therefore cannot think of all emotions as having linguistically formulable content.“[7] Bedeutsam ist ihre Unterscheidung zwischen Hintergrund- und Situationsemotionen, auf die erst in Kapitel 2.3.1 genauer eingegangen wird.[8]

Für die Arbeit des Historikers kann geschlossen werden, dass schriftliche Quellen allein nicht reichen, um Emotionen historisch zu erforschen. Auch die Unterscheidung von Hintergrunds- und Situationsemotionen ist von Bedeutung, da sie sich als hilfreicher als beispielsweise der verbreitete Ansatz Kierkegaards erwiesen hat, zwischen „Furcht“ und „Angst“ zu unterscheiden. Diese Unterscheidung diente nämlich oft der Zu- oder Abschreibung von Rationalität. Die Frage nach der Rationalität der Emotionen wird im Kapitel 2.1.4 behandelt. Im nächsten Kapitel geht es zuerst um Emotionen bei Mensch und Tier und die Frage, ob „nurture or nature“ unsere Emotionen prägen.

2.1.2 Die kulturelle „Revolution“ der Emotionsforschung

Einer der ersten Forscher, der untersucht hat, ob der mimische Ausdruck von Emotionen angeboren oder durch Kultur erlernt ist, war Charles Darwin. Er deutet 1872 in seiner klassischen Studie „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“[9] Übereinstimmungen zwischen Mensch und Tier als Beleg für seine evolutionäre Theorie des Emotionsausdrucks.

Der Gedächtnisforscher Erik Kandel ist heute noch davon überzeugt, dass Tiere Emotionen fühlen können. Dabei setzt Kandel ein hoch entwickeltes Zentralnervensystem für das bewusste Erleben der Emotionen voraus, nicht jedoch für deren Ausdruck. „Tiere empfinden also nicht nur Furcht, sondern wir können auch sehen, wenn sie ängstlich sind. Wir sind gewissermaßen in der Lage, ihre Gedanken zu lesen.“[10] Die Erkenntnisse von den gemeinsamen biologischen Grundlagen der Angst bei Tier und Mensch haben es ermöglicht, in Tierversuchen Medikamente zur Behandlung von Angststörungen beim Menschen zu entwickeln. Aber sind Emotionen wie Angst deswegen rein biologisch bestimmt, angeboren, nur in evolutionären Zeitmaßstäben veränderlich und daher für die Geschichtswissenschaft völlig irrelevant?

Ob der Emotionsausdruck nicht eher kulturell bedingt wird, ist eine der zentralen Forschungsfragen in der Emotionsforschung gewesen. Die extremste Ausprägung einer Antwort findet sich im Sozialkonstruktivismus, der Emotionen allein durch die Gesellschaft geprägt sieht.[11] Diese Vereinfachung lässt jedoch außer Acht, dass Emotionen „hard-wired“ sind, also eine biologische Basis haben und trotzdem verschieden ausgedrückt werden können.[12]

Aus dieser Frage resultiert auch die Bestimmung der Basisemotionen durch Paul Ekman, der mit seinen interkulturellen Studien zunächst genau dies bei Menschen aus Kulturen ohne Kontakt zur Außenwelt nachweisen wollte.[13] Die in Papua-Neuguinea durchgeführten Studien ergaben jedoch zu seiner eigenen Überraschung sechs Basisemotionen, die sich jeweils einem spezifischen Gesichtsausdruck zuordnen lassen, nämlich Freude, Trauer, Angst, Wut, Überraschung und Ekel.[14] Aus diesen Ergebnissen folgte ein großes Interesse an weiteren anthropologischen und kulturvergleichenden Studien zur Frage des Ursprungs von Emotionen mit kontroversen Ergebnissen.

Der Frage, ob Emotionen angeboren oder kulturell geprägt sind, geht der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux mittlerweile aus dem Weg, weil sie für ihn falsch gestellt ist: Kultur und Natur interagieren auf nicht trennbare oder bezifferbare Weise. Beim Menschen sind laut LeDoux Emotionen („feelings“) sowohl biologisch als auch kulturell bedingt. Stearns schreibt über dessen Thesen:

„Emotions almost surely retain some important biopsychological continuities. Changes are going to be slower and less concrete than historians, who like dramatic upheavals, would prefer. There may not be change in basic emotions at all. Yet emotion has cognitive components“.[15]

Da LeDoux in der Definition der Emotionen bei Menschen und anderen Lebewesen einen Unterschied betonen möchte, versucht er einen Kompromiss. Nur beim Menschen benennt er den bewussten und subjektiv erlebbaren Anteil der Emotionen als „feelings“. Wenn er über Emotionen von Lebewesen im Allgemeinen spricht, definiert er diese als „emotional processing“ im Sinne der Informationsverarbeitungstheorien.[16]

Für Historiker ist es also bedeutsam zu wissen, dass Emotionen eine biologische Grundlage haben und trotzdem von der Kultur geprägt werden können. Kulturen legen fest, wie mit Emotionen umzugehen ist, wie sie bewertet und ausgedrückt werden. Diese Emotionskulturen verändern sich.

Die Fragen nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Emotionen von Mensch und anderen Lebewesen führen zum zweiten wissenschaftlichen Wendepunkt in der Emotionsforschung: Emotionen gelten aufgrund der nachfolgend dargestellten Entwicklung nicht mehr als irrationale Kräfte, sondern als Teil höherer neuronaler Informationsverarbeitungsprozesse.

2.1.3 Die kognitive Wende der Emotionsforschung

Der Gegensatz von „ratio“ und „emotio“, Vernunft und Emotion, ist für eine lange Zeit die unumstrittene Grundthese gewesen, die auf René Descartes Leib-Seele-Dualismus basiert.[17] Der Geist sei der Sitz der Vernunft, Emotionen hingegen zum Körper gehörig. Letztere galten per se als irrational und sollten – vergleichbar mit dem „hydraulischen“ Temperaments-Modell der vier Körpersäfte von Galen – von Vernunft kontrolliert, kanalisiert, durch Katharsis umgewandelt, herausgelassen und ausgeglichen werden. Diese Gedankenbilder von der Irrationalität und „Hydraulik“ der Emotionen finden sich bis heute in Forschungsdiskursen wieder. Nussbaum bezeichnet dieses Bild der Emotionen als „grossly inadequate“.[18] Daher soll die sogenannte kognitive Wende im Folgenden detailliert nachvollzogen werden.

In der Moderne wird nicht mehr die Seele als Sitz der Vernunft angenommen, sondern das Gehirn. Für die Psychologen des Behaviorismus Anfang des vorigen Jahrhunderts gilt das Gehirn aber noch als eine „Blackbox“, deren Vorgänge weder messbar noch erkennbar sind. Daher konzentrieren sie sich allein auf beobachtbare und damit messbare Verhaltensäußerungen. Pawlows Prinzip der Konditionierung erklärt menschliches und tierisches Verhalten dementsprechend alleine mit Reiz-Reaktions-Mechanismen. Es besagt, dass Hunde, denen regelmäßig beim Füttern ein Ton präsentiert wird, nach einiger Zeit schon beim Erklingen des Tons ohne Futtergabe Speichel produzieren.[19] Welche Prozesse dabei im Gehirn ablaufen, wird nicht untersucht.

Selbst Angstreaktionen lassen sich konditionieren, wie das später berühmt gewordene Experiment mit dem Baby Albert zeigt.[20] Das Baby wird – nach dem pawlowschen Prinzip der Konditionierung – durch laute Geräusche erschreckt, während es eine Puppe sieht. Einige Durchgänge der Angstkonditionierung reichen, um das Baby beim Anblick der vorher neutral bis positiv erinnerten Puppe zu erschrecken und weinen zu lassen.

Erst eine Studie von Albert Bandura löst 1962 einen Wandel aus, der den Blick in die „Blackbox“ des Gehirns möglich macht. Er zeigt in der sogenannten „Baby Doll“-Studie, dass Kinder, die ein aggressives Verhalten beobachten, dieses nicht nur einfach blind nachahmen (was sie in den meisten Fällen tatsächlich tun), sondern die im Experiment unterschiedlich variierten Konsequenzen des beobachteten Verhaltens in ihre eigenen Verhaltensäußerungen einbeziehen.[21] Somit zeigt für Bandura ein kognitiver Prozess seine Wirkung auf das konditionierte Verhalten. Psychologen interessieren sich seitdem nicht mehr allein für die mechanischen Reiz-Reaktions-Wirkungen des Behaviorismus, sondern wollen im Rahmen des Kognitivismus wissen, was im Gehirn passiert, wenn wir denken. Kognitionen und Emotionen werden noch immer getrennt voneinander betrachtet.

An Emotionen hat Psychologen Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem die Frage nach der Beziehung von Körperempfindung und Reizwahrnehmung interessiert. Die körperlichen Reaktionen eines Studenten bei einer Prüfung verdeutlichen beispielhaft die psychophysiologische Seite der Emotion: Das Herz des Geprüften schlägt schneller, er stammelt, schwitzt und wird rot im Gesicht. Die James-Lange-Theorie von 1884 erklärt das subjektive Erleben der Emotion als nachfolgende Begleiterscheinung der reflexhaften Körperreaktionen:[22] „Ich habe Angst, weil mein Herz schneller schlägt.“ Darauf entgegneten die Forscher Cannon und Bard 1927, dass Emotionen auch unabhängig vom körperlichen Erleben auftreten können.[23] Bei Tieren, deren Rückenmark durchtrennt wird, verändert sich das emotionale Verhalten nicht. Daraus schließen sie, dass der Reiz unabhängig voneinander Emotion und Körpergefühl auslöst. Die Zwei-Faktoren-Theorie von Schachter und Singer baut auf diesem Konzept auf.[24] Emotionen sind das Resultat aus Körperreaktion und einer kognitive Interpretation des Kontexts. Unterschiedliche Kontexte können zur Attribuierung unterschiedlicher Emotionen führen. Hier interagieren Kognition und Emotion.

Resultat dieser Studien ist die Orientierung der psychologischen Emotionsforschung an kognitiven Konzepten, da die Entstehung der Emotion aus dem Erleben der psychophysiologischen Reaktionen allein nicht mehr aufrechterhalten werden kann.[25]

Der wichtigste Schluss aus dieser Forschung ist, dass Historiker zur Interpretation ihrer Quellen keine mechanischen oder „hydraulischen“ Modelle der Emotionen verwenden sollten. Trotzdem kann der menschliche Körper Hinweise auf Emotionen geben. Die Interpretation des Verhaltens hängt aber von den Kognitionen des Betroffenen ab. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, warum Emotionen heute nicht mehr per se als irrational angesehen werden.

2.1.4 Gefühl und Gehirn: Emotionen
in den Neurowissenschaften

Der nächste Schritt in der Emotionsforschung folgt auf Basis von neurowissenschaftlichen Untersuchungen. Die Historikerin Birgit Aschmann fasst die Entwicklung zusammen:

„[E]s ist eine der zentralen Errungenschaften einer rund zwanzigjährigen Emotionsforschung, dass die traditionelle Dichotomie von rationaler Vernunft und irrationalem Gefühl fallen gelassen wurde. Vielmehr hat sich inzwischen eine Neubewertung der Emotionen durchgesetzt, die nunmehr als Grundvoraussetzung für rationales Denken bei Bewertungen und Lernvorgängen gelten.“

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio analysiert in seinem populärwissenschaftlichen Werk Fallbeispiele, wie das vom berühmt gewordenen Bahnarbeiter Phineas Gage, die zeigen, warum die Trennung zwischen Emotion und Vernunft ein Irrtum ist.[26] Die Verletzungen im präfrontalen Cortex, die die beschriebenen Personen erlitten haben, führen zu Verlust von Emotionen und Entscheidungsfähigkeit und verändern die Persönlichkeit, jedoch nicht zu einem Verlust von kognitiven, motorischen oder sensorischen Leistungen. So entwickelt Damasio die Theorie der „somatischen Marker“: Aus den Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Erfahrungsgedächtnis sammelt, entstehen körperliche Signale, die bei Entscheidungen helfen. Diese Signale sind nicht in sprachlicher oder semantischer Form codiert. Sie bremsen oder initiieren Verhalten und Kognitionen, ersetzen Letztere jedoch nicht. Begrifflich definiert Damasio Gefühle („feelings“) und Emotionen („emotions“) unterschiedlich. „Emotionen“ seien Körperzustände, auf denen die somatischen Marker basierten, „Gefühle“ seien erlernte Interpretationen dieser emotionalen Körperzustände. Der Mensch lerne in seinem Leben, die „Emotionen“ des Körpers mit „Gefühlen“ zu interpretieren, beispielsweise als Angst. Dem Verlust der „Emotionen“, z. B. durch Gehirnläsionen, folge Entscheidungsunfähigkeit. So rehabilitiert Damasio „Emotionen“ als Voraussetzung für Entscheidungen und somit auch für rationales Handeln.

Allerdings solle dies nicht dazu führen, dass Emotionen nun im Gegenzug „rationalisiert“ werden, warnt Neurowissenschaftler Joseph LeDoux.[27] Aschmann nimmt diese Warnung auf:

„[I]m Zuge einer ‚Rationalisierung’ der Emotionen [würden] diese zu ‚kalten kognitiven Prozessen’ umdefiniert und somit ihres spezifischen, leidenschaftlichen Charakters beraubt […]. Zudem ist bei der Analyse komplexer Prozesse zu berücksichtigen, dass Emotionen vor evolutionären Hintergrund durchaus rational sein mögen, aber hinsichtlich der Erlangung übergeordneter sozialer Ziele zugleich kontraproduktiv und damit irrational sein können.“[28]

Für Historiker ist es also wichtig darauf zu achten, dass in historischen Quellen Zuschreibungen von Emotionalität oft Irrationalität bedeuten. Da diese Zuschreibungen Ausdruck einer Bewertung sind, sollten Historiker diese Bewertung bei der Interpretation von Emotionen kritisch hinterfragen.

2.1.5 Interdisziplinäre Perspektiven

Der Historiker William Reddy unterscheidet drei „Revolutionen“ für die Emotionsforschung, wovon zwei bisher dargestellt wurden.[29] Philosophie und Psychologie haben den kognitiven Wandel der Emotionsforschung vollzogen, die Ethnographie und Anthropologie einen kulturellen Wandel bewirkt. Seit einigen Jahren setzt die Geschichtswissenschaft an, die historische Dimension der Emotionen zu erforschen. Weitere Beispiele der Emotionsforschung finden sich in der Literaturwissenschaft,[30] der Soziologie,[31] sowie der Politikwissenschaft.[32] Doch zwischen Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Psychologie gebe es für Reddy immer noch zu wenig Verbindungen.

Die dargestellten Forschungsdiskurse zeigen, dass Emotionen nicht allein aus der Perspektive einer Disziplin verstanden werden können, wenn überwundene Fehleinschätzungen der einen Disziplin nicht in einer anderen Disziplin wiederholt werden sollen. Sie sind ein Thema, das idealerweise aus interdisziplinärer Sicht betrachtet werden muss, was die Erforschung natürlich schwieriger, aber auch vielseitiger macht.

Vor allem die Neurowissenschaften haben der Emotionsforschung der letzten Jahre ihren Stempel aufgedrückt, und die biologischen Grundlagen der Emotionen werden in der Emotionsforschung vermutlich auch in Zukunft weiterhin von großer Bedeutung sein. Vor 20 Jahren schien es unmöglich, einem lebenden menschlichen Gehirn beim Arbeiten zuschauen zu können, doch mittels moderner Technik, Mathematik und Physik lässt sich durch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) Gehirnaktivität aufzeichnen, natürlich mit experimentell-bedingten Einschränkungen in den Erfahrungsmöglichkeiten. Neben der Erforschung der neuronalen Korrelate von Emotionen und Erinnerung mittels bildgebender Verfahren sind mehr und mehr die genetischen Grundlagen von größerem Forschungsinteresse.[33] Doch auch die Neurowissenschaftler müssen in diskursivem Austausch mit Forschern der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften stehen, um gegenseitig sowohl die biologische als auch die kulturelle Seite der Emotionen zur Kenntnis zu nehmen.[34]

Ein gutes Beispiel ist das vom Evolutionspsychologen Robert Plutchik stammende sprachwissenschaftliche Konzept des „Raums der Emotionen“. Er versucht, aus den über 400 emotionalen Begriffen der deutschen Sprache Emotionsdimensionen abzuleiten.[35]

Historiker sollten zuerst eine kritische und gründliche Quellenkunde betreiben lernen, doch danach auch einen offenen Blick in die Forschungsergebnisse anderer Disziplinen wagen, wenn sie Emotionen erforschen wollen. Jede Perspektive eröffnet neue Erkenntnisse, die von den anderen Disziplinen nicht vernachlässigt werden dürfen, wenn nicht jede Disziplin Emotionen aus ihrer verengten Sicht allein untersuchen will und dabei Fehlinterpretationen macht, die andere Disziplinen schon widerlegt haben, wie das Beispiel der Irrationalität gut zeigt.

Welche Rolle Emotionen bei historischen Prozessen spielen, welche Schwierigkeiten und theoretische Grundlagen es speziell bei der Emotionsforschung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive gibt, wird im folgenden Kapitel diskutiert. Der Empfehlung des Neurowissenschaftlers LeDoux, die einzelnen Emotionen möglichst getrennt zu untersuchen,[36] wird in den Kapiteln 2.3 und 2.4 durch die gesonderte Untersuchung von Angst aus wissenschaftlicher und historischer Perspektive gefolgt.


  1. Demmerling, Christoph: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart: Metzler 2007; Landweer, Hilge (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin: de Gruyter 2008.
  2. Aristoteles: Rhetorik, München: Fink 1980.
  3. Döring, Sabine A.: „Warum brauchen wir eine Philosophie der Gefühle?“, in: Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a. M.: Campus 2006, S. 66-83.
  4. Nussbaum, Martha Craven: Upheavals of thought. The intelligence of emotions, Cambridge (UK): Cambridge University Press 2003, S. 4.
  5. Ebd., S. 130.
  6. Ebd., S. 3.
  7. Ebd., S. 79.
  8. Ebd., S. 70, 75f.
  9. Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren, Frankfurt a. M.: Eichborn 2000.
  10. Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis, S. 366.
  11. Rosenwein, Barbara H.: „Worrying about emotions in history“, in: The American Historical Review 107 (2002), S. 821-845, hier S. 837.
  12. Plamper, Jan: „The History of Emotions. An Interview with William Reddy, Barbara Rosenwein, and Peter Stearns“, in: History and Theory 49 (2010), S. 237-265, hier S. 260.
  13. Scherer, Klaus R. und Paul Ekman: Approaches To Emotion, Sussex, UK: Psychology Press 1984.
  14. Reddy, William M.: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge (UK): Cambridge University Press 2001, S. 12.
  15. Stearns, Peter N. und Carol Z. Stearns: „Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards“, in: The American Historical Review 90/4 (1985), S. 813-836, hier S. 828f.
  16. LeDoux, Joseph: Synaptic Self. How Our Brains Become Who We Are, New York: Viking Adult 2002, S. 206.
  17. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia 1641.
  18. Nussbaum: Upheavals of thought, S. 25.
  19. Pavlov, Ivan Petrovich: Conditioned reflex. An investigation of the physiological activity of the cerebral cortex., übers. v. G. V. Anrep, London: Oxford Univ. Press 1927.
  20. Watson, James B. und Rosalie Rayner: „Conditioned emotional reactions“, in: Journal of Experimental Psychology 3/1 (1920), S. 1-14.
  21. Bandura, Albert, Dorothea Ross und Sheila A. Ross: „Transmission of aggression through imitation of aggressive models.“, in: The Journal of Abnormal and Social Psychology 63/3 (1961), S. 575.
  22. James: „What is an Emotion?“.
  23. Cannon, Walter B.: „The James-Lange Theory of Emotions. A Critical Examination and an Alternative Theory“, in: The American Journal of Psychology 100/3,4 (1987), S. 567-586.
  24. Schachter, Stanley und Jerome Singer: „Cognitive, social, and physiological determinants of emotional state“, in: Psychological Review 69/5 (1962), S. 379-399.
  25. Eine gute Zusammenfassung der Emotionspsychologie bietet: Meyer, Wulf-Uwe, Rainer Reisenzein und Achim Schützwohl (Hrsg.): Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. 1-3, 2. Aufl., Bern: Huber 2001.
  26. Damasio, Antonio R.: Descartes’ error. Emotion, reason and the human brain, London: Vintage 2006; Damasio, Antonio R.: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, 5. Aufl., Berlin: List 2009.
  27. In Kapitel 2.3.2 wird noch auf die Theorien des Angstforschers Joseph LeDoux’ eingegangen, der die neuronalen Grundlagen der Angst erforscht hat.
  28. Aschmann, Birgit: „Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung“, in: Aschmann, Birgit (Hrsg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005 (Historische Mitteilungen. Beihefte 62), S. 9-32, hier S. 18.
  29. Reddy: The Navigation of Feeling, S. x.
  30. Anz: „Emotional Turn?“.
  31. Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt am Main: Campus 2006.
  32. Nullmeier, Frank: „Politik und Emotionen“, in: Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a. M.: Campus 2006, S. 84-103.
  33. Erk, Susanne u. a.: „Emotional context modulates subsequent memory effect“, in: NeuroImage 18/2 (2003), S. 439-447.
  34. Stephan, Achim und Henrik Walter (Hrsg.): Natur und Theorie der Emotion, 2. Aufl., Paderborn: Mentis 2003.
  35. Eine sehr informative Darstellung des Konzepts findet sich auf dieser Internetseite: Leyh, Arvid: „Ein Raum der Emotionen“, in: DasGehirn.info (25.08.2011), http://dasgehirn.info/denken/emotion/ein-raum-der-emotionen/ [abgerufen am 14.09.2011].
  36. Aschmann: „Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung“, S. 21.

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